1979 heiratete ich meine große Liebe (dachte ich damals). Unsere Flittertage verbrachten wir in Berlin. Es war Sommer und ich erlebte in dieser Millionenstadt das erste Mal, dass ich offenbar von Männern auf eine ganz spezielle Weise angeschaut wurde. Es irritierte mich, obwohl es mir durchaus schmeichelte. Hoffentlich bemerkt meine Frau das nicht.  

Dann wurde ich 1980 Vater. Für mich ist/war die Vaterschaft eine grandiose Lebenserfahrung. Dieses kleine Menschenbündel war nun in meiner Obhut, bis es in seinem eigenen Leben die eigenen Entscheidungen treffen kann/darf/muss.  

Nichts deutete darauf hin, dass in mir selbst ein völlig anderer Prozess immer mehr Dynamik entwickelte. Ich bemerkte, dass mich bestimmte männliche Attribute bei anderen Männern regelrecht faszinierten. Mir fiel das erst tatsächlich nach längere Zeit bewusst auf. Und ich war schockiert! Ach, du Schei...! Hilfe! Wie kann das denn sein? Ich bin doch verheiratet! Und ich bin Vater! Da kann/darf ich doch nicht sehnsüchtig andere Männer anschauen!?! Aber doch passierte es immer wieder und immer öfter. Und mir fiel wieder ein, was mir in Berlin passiert war. Diese Blicke der fremden Männer! Mein Gewissen entwickelte sich zu einer „Grube der Selbstzweifel und Selbstvorwürfe“. Was bitte ist falsch mit mir, dass ich Männer attraktiv finde?! Ich hab’ das doch alles gemacht, wie man es macht?! Ich hab’ eine Freundin gefunden, die ich geheiratet habe! Ich bin Vater geworden! Ich liebe unser Kind! Warum finde ich Männer „plötzlich“ attraktiv?!?  

Dann fand ich eine Erklärung. Wahrscheinlich bin ich bisexuell. Dieser Begriff wurde damals immer öfter in den Medien gebraucht. Ja, --- Bisexuell! Das ist es wohl! Mit dieser Erklärung und Selbsteinschätzung konnte ich mich arrangieren und noch in den Spiegel schauen. Die quälenden Fragen zu mir selbst beruhigten sich. Einige Monate später tauchten in TV-Serien die ersten schwulen Charaktere auf. Lindenstraße, Denver-Clan etc. Ich war jedes Mal, wenn sie auftauchten, mit größter Aufmerksamkeit bei der Serie. Mit der Zeit wurde klar, dass ich irgendwie meiner Frau von mir erzählen muss. Über meine Grübeleien entwickelte sich eine Migräne und auch mein Magen machte immer größere Probleme. Lange Rede, kurzer Sinn: mit der Zeit wurde klar, dass ich nicht bisexuell bin, sondern schwul fühle. Und ich meinen Lebensweg irgendwie ändern muss ...auch um gesund zu bleiben. Mental wie körperlich!  

Aber ich hatte eine Riesenangst, einen derart großen Schritt zu wagen. Um meinen 29. Geburtstag herum begann der Lösungsprozess. Eine irrsinnig aufregende Zeit. Von heute aus gesehen habe ich einen schönen und zufriedenen Lebensweg. Ich habe mir meinen Weg alleine gemacht und das erfüllt mich mit Stolz. Ich bin oft gefallen, war vielmals hilflos und mehrfach in der Situation aufzugeben. Bin wieder aufgestanden und weitergegangen, ohne zu wissen, ob das der richtige Weg ist. Ja! Es ist richtig gewesen. Vielleicht hätte ich mir den einen oder anderen Umweg besser erspart. Aber auch auf den Umwegen liegen Erfahrungen, die im Nachhinein wertvoll sind.  

Uwe, 64 Jahre, April 2023